Sinn für das Unendliche

„Wo und wie ist Unendlichkeit zu finden? Wie kann man der Unendlichkeit inne werden? Der Philosoph der Aufklärung Immanuel Kant schreibt dazu: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide verknüpfe ich mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist“ (Kritik der praktischen Vernunft). Nach Kant ist der Mensch über das universale moralische Gesetz mit der wahren Unendlichkeit verbunden, ist ein Teil von ihr und ihr zugehörig. Das moralische Gesetz steht nicht für das Begrenzende, sondern für die Anteilhabe am Unendlichen und Universalen und darin Unbegrenzten. Für die Romantiker gehört es zu den höchsten Fähigkeiten des Menschen, sich auf das Unendliche zu beziehen. Schleiermacher spricht vom „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Doch gibt es für Schleiermacher keinen unmittelbaren Bezug auf das Unendliche, sondern immer nur mittels der Welt, in welcher der Mensch konkret lebt. Auf das Unendliche kann man sich nur beziehen, indem man etwas bestimmtes Endliches als „Teil und Darstellung des Unendlichen“ versteht. Das sinnlich Wahrnehmbare, zum Beispiel der Sternenhimmel oder ein Kunstwerk können zum individuellen Ausdruck des Unendlichen werden. Als dieser individuelle Ausdruck des Unendlichen ist jedes Einzelne dann auch wichtig und wertvoll. Vielleicht sind die Bilder von Andreas Kuhn solche Möglichkeiten, den Sinn für das Unendliche zu wecken und zu stärken. Die Bilder ziehen einen in eine kontemplative Haltung, in Stille und Konzentration. Je mehr man sich diesen Bildern überlässt, umso mehr spürt man aber auch die Dynamik in den Bilder, die über die Bilder hinaus weist.

Der Bildraum weist keine Grenzen auf, auch die Oben-unten-Orientierung und die Links-Rechts-Orientierung ist nur durch die Bildhängung gegeben, aber nicht von den Bildstrukturen her vorgegeben. Der Bildraum selbst ist richtungslos und ohne singulären Mittelpunkt. Was geschieht, wenn die Grenzen und Orientierungen wegfallen, mit deren Hilfe sich Menschen in ihrer Welt bewegen? Wo sich verorten im grenzenlosen Raum? Was unterscheidet Grenzenlosigkeit von Unendlichkeit? Kant ordnet die Erfahrung von Grenzenlosigkeit der Betrachtung des Kosmos zu, und die Erfahrung von Unendlichkeit dem moralischen Gesetz im Menschen. Andreas Kuhns Bilder sind gleichermaßen äußere Farb-Räume wie innere Welten.“

Prof. Dr. Miriam Rose, Friedrich-Schiller-Universität Jena
(aus „Im Lichte der Unendlichkeit”, Ausstellungskatalog Jena, 2015)

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